Wie der THW Kiel strategisch den Champions-League-Sieg vorbereitete
(MH) Kurz vor dem Jahreswechsel gewann der THW Kiel seinen vierten Champions-League-Titel. Das Final-Four-Turnier wurde zwar wieder einmal in Köln ausgespielt, sonst war aber fast nichts wie immer. Die Corona-Pandemie brachte in den letzten Monaten auch beim Handball, selbst in perfekt durchorganisierten und -kommerzialisierten EHF-Wettbewerben, alles durcheinander. Natürlich waren keine Zuschauer in der Halle, die FFP2-Atemschutzmasken gehören mittlerweile zum alltäglichen Bild und der Abstand wird von den Akteuren, vor und nach den Spielen, vorbildlich und fast schon automatisch eingehalten. Das Turnier wurde mit einer sechsmonatigen Verspätung ausgetragen, es bildete den krönenden Abschluss der Saison 2019-20, wenngleich natürlich mittlerweile bei allen Teams Akteure mitspielten, die im Frühjahr noch an anderer Stelle wirkten. An zwei aufeinanderfolgenden Tagen, Montag und Dienstag, traf die Crème de la Crème des europäischen Klubhandballs aufeinander. Die Kader aller Lager waren gespickt von Sternchen, Stars und Superstars. Die Etas der Vereine gaben das her, obwohl die Millionen aus unterschiedlichen Finanzierungsmodellen stammten. Dem FC Barcelona und mit Abstrichen der KC Veszprém wurde sowohl von den Teilnehmern als auch von den begleitenden Experten die Favoritenrolle zugeschoben. Wie konnte es also dem THW Kiel gelingen, gleich beide Top-Kontrahenten aufeinaderfolgend zu bezwingen?
Was war demnach der entscheidende Faktor? Zunächst muss festgehalten werden, dass große Siege in einer Mannschaftssportart nur mit einer fantastischen Mannschaftsleistung errungen werden können. Die vielen kleinen Rädchen müssen just zum richtigen Zeitpunkt ineinandergreifen, um ein kompliziertes und diffiziles Gebilde in Gang zu setzen und möglichst lange ohne zu stottern am Laufen zu halten. Die beiden Kreisläufer Hendrik Pekeler und Patrick Wiencek errichteten ein schieres Abwehrbollwerk, liefen die erste und zweite Welle mit und stellten eine Sperre nach der anderen. Die cleveren Außenspieler Rune Dahmke und Niclas Ekberg rannten blitzschnell über das ganze Feld, streuten immer wieder Trickwürfe ein und der Schwede war vom Siebenmeterstrich eiskalt. Sander Sagosen, der norwegische Superstar, der vor Saisonbeginn genau für solche Spiele verpflichtet wurde, übernahm in entscheidenden Situationen immer wieder Verantwortung, war sich aber auch nicht zu schade dafür, jedem Angreifer entgegenzutreten. Steffen Weinhold, der mit seiner ganzen Erfahrung zum tragenden Pfeiler eines ins Wanken geratenen THW-Angriffsspiels avancierte, war der Ruhepol. Hinzu gesellte sich mit Domagoj Duvnjak ein klug und umsichtig agierender Lenker, der stets den Überblick behielt und die jungen Wilden um ihn herum beizeiten zur Ordnung rief. Während einer Auszeit fasste der THW-Trainer, Filip Jicha, all das prägnant zusammen: „Ihr kämpft wie die Schweine.“ Im zuweilen rauen Handballjargon kann diese Aussage durchaus als Lob aufgefasst werden.
Jeder, der schon mal Handball gespielt oder auch nur eine Partie gesehen hat, weiß jedoch, dass nie alles perfekt läuft. Egal wie sehr man kämpft, es kommt fast immer ein Punkt, an dem das Spiel kippen kann. So erging es auch den Kielern an beiden Tagen. Im Halbfinale spielten sie zunächst groß auf und warfen sich eine Fünf-Tore-Halbzeitführung heraus. Im zweiten Spielabschnitt klappte jedoch nur noch wenig und so sahen sich die Norddeutschen zehn Minuten vor Spielende mit einem Vier-Tore-Rückstand konfrontiert. Der THW nutzte eine Zeitstrafe für die Ungarn, schlug zurück, kämpfte sich in die Verlängerung, überwand unglückliche Schiedsrichterentscheidungen, blockte den finalen Freiwurf des ungarischen Meisters in Person von Niclas Ekberg mit dem Gesicht und zog ins Finale ein. Dort wartete nicht einmal vierundzwanzig Stunden später der große FC Barcelona, der zuvor souverän Paris Saint-Germain ausgeschaltet hatte.
Nach dem Kraftakt vom Vortag lief das Finale fast wie gemalt. Früh wurden die Katalanen unter Druck gesetzt, drei Tore betrug der Vorsprung zwischen den beiden Hälften. Nach der Pause konnte dieser sogar noch etwas ausgebaut werden, doch dann geriet das Schwarz-Weiße-Spiel ins Stocken. Im Angriff gingen die Bälle reihenweise verloren und es stand sehr lange 26:21, weil eben auch der Kontrahent nicht zu Torerfolgen kam. Woran das lag, sprang jedem Beobachter schier ins Auge. Natürlich, die Deckung funktionierte weiterhin, im Rückzug wurden Bälle gestohlen die Spieler aus der Mittelmeermetropole agierten nicht fehlerfrei, aber das alles war nur schmückendes Beiwerk. Der Mann im Kasten der Kieler nagelte denselben zu, zeigte perfektes Stellungsspiel, fing Bälle von Weltklassewerfern und gelangte in die Köpfe seiner Gegenspieler. Er war der Rückhalt, der den THW die letzte wackelige Phase überstehen ließ. Schon gegen Veszprém zeigte er sich, gerade in der entscheidenden Phase, gut aufgelegt, so präsentierte er sich am Dienstag in Bestform. Die Bälle schienen auf magische Weise stets den Weg zu ihm zu finden. Weder mit brutaler Gewalt, mit künstlerischer Anmut noch trickreicher Raffinesse fanden die Katalanen einen Weg an ihm vorbei. Niklas Landin war der Königsmacher, was wiederum die Frage nach der Kaderplanung aufwirft.
Alle vier Halbfinalteilnehmer waren fantastisch besetzt, ihre Kader gespickt mit Stars. Allein die Rückraumreihen lesen sich wie ein Who’s Who des europäischen Handballs. Trotz verletzungsbedingter Rückschläge konnte der französische Meister PSG mit dem Dänen Mikkel Hansen und dem Letten Dainis Krištopāns einen körperlich eindrucksvollen und immens wurfgewaltigen Rückraum stellen. Bei den Ungarn, die ebenfalls Ausfälle zu beklagen hatten, bordete das spielerische Genie auf der Mitte schier über, standen doch mit Petar Nenadić, Kentin Mahé und Máté Lékai immer noch drei Spielmacher von Weltklasseformat für sie auf der Platte. Zusätzlich zu Barcelonas vortrefflichem Tempospiel kombinierten die Katalanen in ihrer Rückraumlinie Finnesse und Athletik in Gestalt von Aron Pálmarsson, Luka Cindrić und Dika Mem. Am Kreis und auf den beiden Außenpositionen stellte sich die Kaderzusammensetzung ähnlich dar. Natürlich hat auch der THW Kiel mit Sander Sagosen, Domagoj Duvnjak und Steffen Weinhold Spieler gleichen Formats, ebenfalls am Kreis und auf Außen, doch den Unterschied, den Vorsprung erarbeiteten sich die Norddeutschen im Tor.
Niklas Landin hatte bis vor wenigen Tagen fast alles gewonnen, was es in der Handballwelt zu gewinnen gibt. Nationale Titel in Dänemark und Deutschland, den Europapokal, die Europameisterschaft die Weltmeisterschaft und die olympische Goldmedaille – nur den Pokal der Champions-League durfte er bis dahin noch nicht in die Höhe stemmen. Vor Jahresfrist gelang es ihm – als Torhüter – zum Welthandballer des Jahres gewählt zu werden. Hinter ihm stand zudem ein solider und überaus loyaler Dario Quenstedt, mit welchem er ein harmonisches Torhütergespann bei den Zebras bildet. Was hatten die Gegner der Kieler eben jenen an diesen beiden Tagen zwischen den Pfosten entgegenzusetzen?
Paris schickte mit Vincent Gérard immerhin die französische Nummer eins ins Feld, der allerdings während seiner ganzen Karriere nie dem langen, schier bleiernen, Schatten Thierry Omeyers zu entkommen vermochte. Sein Pendant im PSG-Gespann, Yann Genty, ist ohnehin eher den französischen denn den europäischen Handball-Fans ein Begriff. Für die Ungarn liefen Rodrigo Corrales und Vladimir Cupara, die spanische Nummer zwei und ein serbischer Šterbik-Ersatz auf. Barcelona warf Gonzalo Pérez de Vargas (kein Hombrados, geschweige denn ein Barrufet) und Kevin Møller (die dänische Nummer drei hinter eben Niklas Landin und Jannick Green) in die Schlacht. Alles zweifellos gute bis sehr gute Torhüter, doch das Weltklasseformat konnte eben, wenigstens an diesen beiden Tagen, lediglich der Kieler Schlussmann nachweisen.
Den taktischen Vorteil bei diesem Final-Four erlangte der THW Kiel also aus zweierlei Gründen. Erstens aufgrund der vorzüglichen Leistung Niklas Landins zwischen den Pfosten und zweitens wegen der herausragenden strategischen Kaderplanung der Verantwortlichen, insbesondere des umsichtig und weitsichtig agierenden Viktor Szilágyi, der ab 2018 das Amt des sportlichen Leiters übernahm und nur ein Jahr danach zum Geschäftsführer der Handballer von der Kieler Förde avancierte. Wenngleich er selbst nicht für den Transfer Landins in den hohen Norden verantwortlich zeichnete, ist seine Handschrift hinsichtlich der Zusammenstellung der Mannschaft immer deutlicher zu erkennen. Der Österreicher mit ungarischen Vorfahren setzt weniger auf Quantität, sondern punktuell (vor allem auf den Schlüsselpositionen) auf extraordinäre Qualität (Landin, Sagosen, etc.), unterstützt von verlässlichen Arbeitern ohne Starallüren. Er spielt Schach auf dem Handballparket – reduzierte Quantität bei spezieller Qualität – was strategisch eine defensive Auslegung der Kaderplanung andeutet, um Geld einzusparen, damit er sich taktisch offensive Optionen offenhalten kann, um wiederrum die freigewordenen bzw. zurückgehaltenen Finanzmittel in herausragende Qualität zu investieren. In nur zwei Jahren hat Szilágyi somit maßgeblich zum Gewinn des vierten Champion-League-Titels des THW Kiel beigetragen, was ihn zu einem Géza Maróczy des Handballs, zu einem beschleunigten Drachen, macht.