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160 Jahre Städtisches Krankenhaus Wismar

Städtisches Krankenhaus Wismar

Michalowski, Berthold

1994
80 Seiten

Eine kurze Geschichte des Wismarschen Krankenhauses

Es ist eine Kunst, in Stil, Form und Inhalt eine hervorragende Festschrift zu verfassen. Es herrscht ein enormer Zeitdruck, weil ein Termin einzuhalten ist. Der Autor ist in der Regel, stärker als es ihm vermutlich lieb ist, auf die Zuarbeit anderer angewiesen, welche die ihnen darüber hinaus zufallende Aufgabe bestenfalls als interessant, normalerweise aber wohl eher als etwas lästigen, zusätzlichen Aufwand empfinden, der sie von ihrer eigentlichen Arbeit, ihrer Passion, abhält. Der Ton, der zum beschriebenen Gegenstand passt, muss unbedingt getroffen werden. Es gilt, Würdenträger, Leiter und relevante Mitarbeiter einzubeziehen. Des Weiteren ist es wichtig, gut zwischen der Vermittlung von Fach-, Fakten- und Allgemeinwissen zu vermitteln.

Das vorliegende Werk „160 Jahre Städtisches Krankenhaus Wismar“ ist im Eigenverlag und ohne ISBN-Nummer erschienen, weswegen es lediglich antiquarisch zu beziehen ist. Die Wahl dieser Produktionsweise und der Verzicht auf einen kommerziellen Vertriebsweg sind in Anbetracht der Spezifik und der lokalen Bedeutung absolut verständlich. Nichtsdestotrotz hat der Autor, Dr. med. Berthold Michalowski, eine beachtlich detaillierte und extrem sauber recherchierte Schrift zum damaligen Städtischen Krankenhaus Wismar, dessen Fachrichtungen und insbesondere dessen Geschichte angefertigt und herausgebracht.

Nach diversen Grußworten lokalpolitischer Würdenträger – der Bürgermeisterin, des Stadtpräsidenten, des zuständigen Senators und des Verwaltungsdirektors – geht Berthold Michalowski mit den Lesern sofort in medias res. Dem Inhaltsverzeichnis nach ist das Buch in 23 Kapitel untergliedert. Nach Abzug von Gruß-, Vor- und Nachwort bleiben noch 18. Die 65 verbleibenden Seiten verteilen sich zu zwei Dritteln auf 17 extrem kurze Beschreibungen der einzelnen Fachbereiche und zu einem Drittel auf einen historischen Abriss der Entwicklung der Geschichte der Krankenversorgung in der Hansestadt Wismar.

Die informativen, prägnanten und mit Daten angereicherten Kurztexte zu den einzelnen Abteilungen bzw. Kliniken umfassen Verwaltung; Innere Medizin; Gynäkologie und Geburtshilfe; Chirurgie; Neuropsychiatrie; Kinderchirurgie; Kinderheilkunde und Jugendmedizin; Urologie; Anästhesiologie und Intensivtherapie; Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde; Radiologie; Transfusionsmedizin; Physiotherapie; Zentrallabor; Krankenhausapotheke; Krankenpflege und Ausbildung. Unterstützung fand der Autor durch das freundliche Mitwirken von Doz. Dr. sc. med. Friedrich Hauzeur, Prof. Dr. med. habil. Heinz-Herbert Büttner, MR Dr. med. Peter Pietsch, Dr. med. Elise Michalowski, Prof. Dr. med. habil. Tim Müller, Prof. Dr. med. Peter Koepp, dr. med. Bernd Heine, MR Dr. med. Annemarie Tamme, MR Dr. med. Reiner Schulze, Dr. med. Christian Dettmann, Heidrun Boitin, Dr. med. Peter Linnecke, Dr. rer. nat. Helge Egner, Med. Ass. Peter Ofiara und Dipl. Med. Päd. Marita Beguhl. Der hohe Grad an Informationsdichte lässt diese jedoch stark ins technische bzw. hyperfachliche abdriften, weswegen er für Laien zuweilen schwer verständlich erscheinen mag.

Michalowski ließ es sich jedoch nicht nehmen, den eigentlichen Kern des Buches zu verfassen. In ihm thematisiert er die Entwicklung von der „mittelalterlichen Mönchsmedizin zur modernen Krankenhausbehandlung“. Er führt den Leser von ersten klerikalen Laienpflegekräften, die es schon im 13. Jahrhundert in Wismar gegeben haben soll, die über 500 Jahre in Klöstern und anderen umfunktionierten Räumlichkeiten die Kranken- und Altenpflege übernahmen, hin zum hochmodernen Krankenhaus kurz vor dem Millennium. Erst im Jahre 1833 kaufte die Stadt ein Gebäude und funktionierte es zu einem provisorischen Krankenhaus um. Später erfolgte ein Neubau am Dahlberg, der genuin als Kranken- und Heilanstalt dienen sollte. In unglaublicher Detailschärfe ist beim Autor bspw. nachzulesen, mit wie viel Reichstalern das Krankenhaus jährlich bezuschusst wurde, wie hoch die Kurkosten waren, wie viele Patienten behandelt wurden, wer welche Summen der Einrichtung spendete oder wie hoch die statistische Bettenauslastung war. Nach dem Zweiten Weltkrieg mit all seinen verheerenden Verwüstungen galt es, eine funktionierende Krankenversorgung schnellstmöglich zu organisieren. Hierzu wurde ein weiterer Standort erschlossen, das große Luftwaffenlazarett, in dessen Nähe später ein ganzer Stadtteil entstehen sollte. Nach der Gründung der DDR beschreibt Michalowski präzise, wie unter schwierigen Begleitumständen die Zentralisierung aller ärztlichen Dienste und Leistungen – um die Versorgung einer Stadt mit nunmehr 50.000 Einwohnern bestmöglich zu gewährleisten – erfolgte. Er spricht gar von der „Schaffung eines gigantischen Gesundheitskombinats“. Von 1949 bis 1989 wurde die Bettenzahl kontinuierlich bis auf 923 ausgebaut. Etwa 750.000 Patienten konnten behandelt, 400.000 operative Eingriffe durchgeführt und knapp 1.000.000 Laborleistungen erbracht werden. Er schließt mit einem Zitat von Luc Ciompi, welches auf die Bedeutung der Geschichte für jedes Individuum verweist, egal ob es ihm bewusst ist oder nicht.

Das Buch „160 Jahre Städtisches Krankenhaus Wismar“ ist eine exzellente Detailstudie der Entwicklung der Krankenversorgung in einem provinzialen Mittelzentrum. Am Beispiel des Wismarer Krankenhauses kann dank der unglaublich intensiven archivarischen Arbeit des Autors der Fortschritt im Lauf der Zeit nachvollzogen werden. Zur Illustration ist das Werk gespickt mit Grundrissen, Bildern historischen Dokumenten, Skizzen und Porträts. Trotzdem ist der spezifische Charakter nicht zu verschleiern, es ist und bleibt eine Bibel für Eingeweihte und Überzeugte, die sich dem Wismarer Krankenhaus verbunden fühlen oder im selbigen gearbeitet haben. Dafür ist Michalowskis Buch eine verlässliche Fundgrube von unschätzbarem Wert, was Daten und Fakten aus den Kellern der Archive betrifft.

The Great Nowitzki – Das außergewöhnliche Leben des großen deutschen Sportlers

Kiepenheuer & Witsch

Pletzinger, Thomas

2019
507 Seiten
ISBN: 3462047329

€[D] 26,00 (Buch)
€[D] 12,99 (E-Book)

Ein Held wider Willen? – Dirk Nowitzki zwischen Deutschland, Dallas, Demut, Druck und Dankbarkeit.

Das Leben eines Superstars zu beschreiben, ist eine Herkulesaufgabe. Viele haben sich daran versucht, fast ebenso viele sind daran gescheitert. Die Welt der Stars ist ambivalent. Sie sind alle verschieden, doch ihre Berühmtheit, ihr Status und ihre Bedeutung für Menschen, die sie selbst nie im Leben getroffen haben, kann schier unbegreiflich anmuten. Manche sind extro-, andere wiederum introvertiert. Auch die Felder, auf welchen sie es zu Ruhm gebracht haben, variieren sehr stark (Musik, Malerei, Politik, etc.). Auch im Sport sind sie zu finden, weil er in seinen diversen Ausprägungen für unglaublich viele Menschen zu einer Art Ersatzreligion avanciert. Die Superstars von heute sind die Gladiatoren der Neuzeit, die immer öfter in immer kürzer werdenden Abständen für immer mehr Geld aufeinandertreffen, um die Massen zu belustigen, zu begeistern und zu beschäftigen. Panem et circenses.

Im Fußball haben wir in Deutschland viele Stars, ist er doch mit weitem Abstand die Sportart Nummer 1. Es gibt sie auch, mit Abstrichen, im Handball, im Volleyball, im Tennis oder im Eishockey. Beim Basketball verhielt es sich hierzulande lange anders. Zwar wird die Sportart in den letzten Jahren, nicht zuletzt wegen Dirk Nowitzki, immer populärer, aber sonst fehlte fast immer internationale Klasse. Es gab den Wegbereiter Detlef Schrempf und aktuell wirbelt Dennis Schröder die NBA auf, aber in den zwei Jahrzehnten nach der Jahrtausendwende war Dirk Nowitzki der deutsche Basketball und der deutsche Basketball war Dirk Nowitzki. Eine Größe, ein Star, aber welche Bedeutung sein Wirken insgesamt hatte, erschließt sich vermutlich erst nach einer Reise in die Vereinigten Staaten, insbesondere in „seine Stadt“ – Dallas.

Thomas Pletzinger stand vor dem Problem, die vielen Facetten des Riesen zu erfassen, sie möglichst treffend zu beschreiben und sie alle in Beziehung zu setzen. Der beste deutsche Basketballer aller Zeiten, der beste Europäer, der jemals diesen Sport in der NBA, der besten Liga der Welt, über einen unglaublich langen Zeitraum auf höchstem Niveau ausgeübt hat, wirkt einschüchternd. Wie kann es gelingen, sein Wesen, seinen Weg, seine Leistungen und seine Bedeutung über den Sport hinaus einzufangen? Der Autor bemüht sich auf mehr als 500 Seiten darum. Er versucht, den sich selbst auferlegten großen Anforderungen dadurch gerecht zu werden, indem er die klassischen Pfade des Schreibens einer Sportlerbiografie verlässt. Er wandelt absichtlich ein wenig im Abseits und macht keinen Hehl aus seiner Bewunderung für die Person, um die es in seinem Buch geht. Für Puristen des literarischen bzw. journalistischen Betriebs ist das sicherlich ein Kritikpunkt, weil die professionelle Distanz nicht immer zur Gänze gewahrt werden konnte, doch Pletzinger macht aus einer Schwäche eine Stärke. Zum einen gelingt ihm in unzähligen Gesprächen mit dem Protagonisten, mit seiner Familie, seinem Mentor, seinen Mitspielern, seinen Gegenspielern, mit Journalisten, Managern, Kartenverkäufern, Parkplatzwächtern, Reinigungspersonal und Fans ein Potpourri an Meinungen, Einschätzungen, Erzählungen, Daten, Fakten, Tatsachen, Berichten und Gerüchten zu entwerfen, dessen Charme man sich nur schwer entziehen kann, eben weil es ihm gelingt, den Leser praktisch in Dirk Nowitzkis Haus, in seinen Tesla oder in seine Trainingshalle einzuladen. Zum anderen meidet er durch die Recherche und den lockeren Schreibstil das Klinische und Aseptische, das zuweilen Biografien unzugänglich macht. Obwohl er Nowitzki-Fan ist, lässt er ihn nicht zu einer monumentalen Statue werden. Natürlich sind die sportlichen Leistungen und Erfolge ein zentraler Bestandteil des Buches. Sie werden hervorgehoben, gewürdigt und eingeordnet, aber eben nicht verklärt oder gar religiös verehrt.

Das Rückgrat des Buches bilden ein Prolog, sechs Hauptkapitel und ein Epilog nebst einigen Verweisen und Danksagungen. Pro- und Epilog bilden eine Klammer, indem sie beide vom Tag des letzten Heimspiels Dirk Nowitzkis im American Airlines Center für die Dallas Mavericks handeln. Im ersten Kapitel – Dirk Nowitzki – geht es um die Hauptperson, den unteren Katzenbergweg, um Holger Geschwindner und um das Jahr 2012, in dem der Journalist die Fährte aufnahm. Der zweite Abschnitt beschreibt den Weg des Würzburgers in die NBA und an die Spitze der Basketball-Welt. Es ist keine Handlungsanleitung und kein Aktionsprogramm. Es geht lediglich darum, wann, wie und warum welche Entscheidungen getroffen wurden und welche Auswirkungen diese hatten oder hätten haben können. Der dritte Teil zeigt anschaulich, wie sehr Superstars während ihrer Karriere von allen Seiten vereinnahmt werden. Geldgeber, Werbepartner, Spieler, Trainer, Offizielle, Liga-Angestellte, Fans; jeder will sein kleines Stück vom Helden haben und jeder möchte, wenn auch nur kurz, ein Teil dessen Lebens gewesen sein. Schließlich wollen die Leute später doch jedem der es hören oder auch nicht hören will, ihre Geschichte vom Treffen mit Dirk Nowitzki erzählen. Zuweilen werden die Sportler wie in einem Zoo ausgestellt. Das Herzstück des Buches, hierfür bemüht der Autor sogar Petrarca, ist Kapitel vier – eine kurze Zusammenfassung des Meisterschaftsjahres 2011 mit speziellen Blick auf die Play-offs. Wie das Team aussah, wer die Gegner waren, wie dominant Nowitzki spielte, wie hart der Kampf war, welche Begeisterung der Sieg entfachte und was die Meisterschaft dem großen Deutschen letztendlich bedeutete (nämlich alles). Er war am Ziel, wobei die Leser von Thomas Pletzinger mit zur Ziellinie begleitet werden. Darauf folgt ein kurzer Exkurs, kaum mehr als dreißig Seiten, über das Erreichen einer Rekordmarke – des 30.000 Punkts in der NBA. Die Statistiken spielen bei der Sportbegeisterung der US-Amerikaner eine Rolle, die Europäern zuweilen merkwürdig bis unverständlich erscheint. Ein Zirkus um eine Zahl. Den Schluss des Hauptteils bildet das sechste Kapitel. Es handelt von einem alternden Star, der aber immer noch Projektionsfläche, Aushängeschild und Werbeikone ist. Der Ton wird merklich ruhiger, der Stil verhaltener und das Bild trübt sich ein wenig ein. Es zeigt Weggefährten, Familie und Freunde, die Dirk Nowitzki – wissentlich oder unwissentlich – auf seinen Abschied vom professionellen Sport vorbereiten und ihm beim Start in sein Leben nach dem Sport beistehen. Der Epilog beschreibt die letzten Tage, Stunden und Minuten des „German Wunderkinds“ als Basketballer. Er dokumentiert, wie sich an jenem Tag alles zutrug und wie Dirk Nowitzki auch diese schwierige und einmalige Situation meisterte. So wie er stets an die Dinge heranging, ruhig, unaufgeregt, freundlich und weltoffen.

Einen großen Plan oder eine klare Struktur in diesem Buch zu finden, dürfte schwerfallen. Es ist wie ein Flickenteppich. Es unterwirft sich nicht den Zwängen der Chronologie. Es ist nicht linear. Dafür muss man sich beim Lesen konzentrieren. Thomas Pletzinger fordert seine Leser. Er animiert sie, sich immer weiter mit dem Thema zu beschäftigen. Die Sprunghaftigkeit des Schreibstils, die Fülle der Anekdoten und die Wucht der „Nowitzki-Story“ fordern die Synapsen. Querverbindungen helfen, um sie in Gänze zu erfassen. „The Great Nowitzki“ ist eine Biografie, ohne eine sein zu wollen. Eine Ode an den Sport, eine Lobeshymne auf Dirk Nowitzki und eine Liebeserklärung an das Spiel.

Weimarer Verhältnisse? Historische Lektionen für unsere Demokratie

BPB

Hrsg.: Wirsching, Andreas; Kohler, Berthold; Wilhelm, Ulrich

2018
120 Seiten
Bestellnummer: 10202
€[D] 1,50

Immer ist Weimar? – Wie umgehen mit einem Menetekel in der Erregungsdemokratie?

In dem 2018 erschienenen Büchlein beschäftigen sich Politikwissenschaftler und Historiker mit dem Phänomen des Scheiterns der Weimarer Republik, dessen langer Schatten bisweilen immer noch die politische Gegenwartskultur der Bundesrepublik verdunkelt. Für einen äußerst geringen Abgabepreis ist das von Andreas Wirsching, Berthold Kohler und Ulrich Wilhelm herausgegebene Werk „Weimarer Verhältnisse? – Historische Lektionen für unsere Demokratie“ bei der Bundeszentrale für politische Bildung zu beziehen. In ihm befassen sich sieben Wissenschaftler mit differierenden Perspektiven und Schwerpunkten des Scheiterns der ersten deutschen Demokratie. Sie suchen, definieren und bewerten die Gründe für den Zusammenbruch der Republik und die Machtergreifung der Nationalsozialisten. Dabei bleiben sie nicht in einer rein historischen Analyse verhaftet, weil sie die bundesrepublikanische Gegenwart als festen Relationspunkt betrachten und immer wieder Phänomene von damals und heute vergleichend einordnen. Dies gelingt insbesondere deshalb formidabel, weil jeder Autor einen eigenen Schwerpunkt fixiert. Andreas Wirsching selbst widmet sich dabei der politischen Kultur und der generellen Synthese und Kompatibilität aller Texte, wenngleich einige Redundanzen nicht vermieden wurden. Werner Plumpe geht auf die ökonomische Situation ein, Horst Möller widmet sich dem Parteiensystem, Jürgen W. Falter analysiert die Wählerbewegungen, Herfried Münkler erklärt die internationale Lage und Hélène Miard-Delacroix eröffnet eine auswärtige, französische Sichtweise. Die erreichte Diversität auf etwa 120 Seiten ist mehr als beachtlich, die Texte sind kurz und prägnant und die Analysen werden straff geführt.

Einleitend appelliert Andreas Wirsching an die Vernunft. Er hält fest, dass der Kollaps der Weimarer Republik nicht singulär bedingt ist. Vielmehr trug eine Melange von Gründen dazu bei, etwa das ausgeprägte Freund-Feind-Denken in Politik und Medien, die mangelnde Kompromissbereitschaft, das Wirken der Dolchstoßlegende und gemeinhin, dass Weimar eine Demokratie ohne Demokraten gewesen sei. Darüber hinaus litt der junge Staat gleich unter diversen schweren Bürden. Genannt seien an dieser Stelle der Vertrag von Versailles, die Reparationslast und die Wirtschaftskrisen. Sie alle nährten die Enttäuschung und die Ablehnung großer Bevölkerungsschichten des Weimarer Staates in ihr neues, republikanisches System. Andreas Wirsching weist explizit darauf hin, dass die Unterschiede zwischen der Weimarer Republik und der Berliner Republik dabei signifikant sind. Allerdings können politische Radikalisierung, die Globalisierung, Wirtschafts-, Finanz- und Migrationskrisen isolationistische Tendenzen fördern. Es bedürfe daher einer sich ständig und durch die Generationen regenerierenden „Demokratischen Front“, die sich geschlossen und übermächtig permanent den immer wieder anstürmenden antidemokratischen und antirepublikanischen Kräften entgegenstellt. Getreu dem Motto: Wehret den Anfängen!

Werner Plumpes Analyse zielt insbesondere auf die Akkumulation von Problemen ab. Seiner Meinung nach müssen auftretende Probleme eher früher als später gelöst werden, bevor ihre Größe merklich zugenommen hat und sich gar ein ganzer Berg von Problemen vor einer Regierung auftürmt, dessen sie dann nicht mehr Herr zu werden vermag. Die oft kritisierte und als Sargnagel der Weimarer Republik ausgemachte Brüningsche Deflationspolitik sieht Plumpe unkritischer. Er fordert gar eine Neubewertung eben dieser vor dem Hintergrund vermeintlich fehlender Alternativen und der ehrlichen Bemühung, Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen, ohne den kriegsbedingten Schulden- und Reparationsdienst weiterhin vertragsgetreu zu bedienen. Der Abschied von Dawes-Plan und der schwierige Wechsel zum Young-Plan dominierten 1929 die innenpolitischen Spannungen, deren Zerbersten nicht einmal Reichsaußenminister Stresemann zu verhindern mochte. Hier sieht Plumpe gewisse Parallelen zur Weltfinanzkrise 2008. Er zieht im Vergleich der Krisen von 1929 und 2008 den Schluss, dass in Krisenzeiten nationale Handlungsfähigkeit vor internationalen Verpflichtungen geht, da sonst das Vertrauen in die demokratisch bestimmten Handlungsträger in Kürze erodiert. Außerdem stellt das Handlungsfähigkeit unter Beweis. Die von ihm mehrfach präferierte Option, lieber zu handeln statt Zeit mit Schulden zu kaufen, basiert auf einer Überbewertung der Belastungen durch den Schuldendienst, die Ökonomen wie Gunnar Myrdal und John Maynard Keynes längst schlüssig wiederlegt haben.

Den Problemen des Parteiensystems widmet Horst Möller seine Aufmerksamkeit. Er stellt zunächst deutlich die Unterschiede zwischen dem Parteiensystem der Weimarer, Bonner und Berliner Republik heraus. Anhand der Anzahl der im Parlament vertretenen Parteien, deren Milieubindung, deren ideologische Festigkeit, der Kompromissbereitschaft, der Regierungsdauer und der verfassungsmäßigen Rolle des Reichspräsidenten. Möller geht stark den Forschungen von Gustav Radbruch nach und attestiert der Weimarer Gesellschaft eine Parteienprüderie, die in antidemokratischen Reflexen aus der Zeit des Kaiserreichs wurzelte. Im Gegensatz dazu ist die politische Verantwortung der Parteien in der Bundesrepublik fest verankert und schon von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes vorgegeben worden, weswegen deren Wichtigkeit für das reibungslose Funktionieren einer parlamentarischen, repräsentativen Demokratie gesellschaftlich akzeptiert ist. Dem plebiszitären Element steht Möller daher eher ablehnend gegenüber, weil er die diesem Verfahren inhärente Gefahren am Weimarer Beispiel bestens illustriert sieht. Die zentrale Aufgabe für die Gesellschaft besteht seiner Auffassung nach darin, die Jugend für die Zukunft der Demokratie zu gewinnen, denn als in der Weimarer Republik die Jugend zu den Extremen (NSDAP und KPD) abwanderte, verlor die Republik die Kraft, sich gegen eben diese zu erwehren.

Ute Daniel fokussiert sich in ihrem Beitrag auf Sprache und Medien. Dabei nutzt sie ein Beispiel aus der Geschichte der ersten deutschen Demokratie – den SA-Befehl und die Berichterstattung im Spektrum der Presselandschaft – um drei Punkte herauszuarbeiten, warum und in welcher Form die beiden von ihr adressierten Aspekte zum Scheitern der Weimarer Republik beitrugen. Erstens attestiert Daniel eine große Nähe zwischen den politischen Nachrichtenmedien und den politischen Parteien. Zweitens diagnostiziert sie, dass die Presselandschaft der Weimarer Republik an einer extremen Zerklüftung krankte. Der erste Umstand sei in der Bundesrepublik immer noch gegeben, der zweite nur noch bedingt vorhanden, wenngleich sie auf die Wirkung von Blasen und Echokammern in den sozialen Medien zu sprechen kommt. Drittens macht sie eine selektiv antirepublikanische Mediendynamik in der Weimarer Republik aus. Das Schlagwort der „Hugenbergpresse“ und ihres unseligen Wirkens vor 90 Jahren dürfte den meisten geläufig sein. Allerdings, so konstatiert Daniel, scheitert die Demokratie nicht am Gegenwind, sondern an fehlendem Rückenwind, wobei sie sich an den irisch-britischen Schriftsteller Edmund Burke anlehnt, der gesagt haben soll: Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun!

Den letzten Wahlen in der Weimarer Republik unterzieht Jürgen W. Falter einer Wählerschafts- bzw. eine Wählerwanderungsanalyse. Diese steht unter dem Motto der „Volkspartei des Protests“ (Thomas Childers). In ihr zeichnet er den rasanten Aufstieg der NSDAP seit 1928 nach und versucht ihre beachtlichen, fast aus dem Stand erzielten, Wahlerfolge zu erklären. Zudem zieht er Vergleiche zu gegenwärtigen Entwicklungen im bundesrepublikanischen Parteienspektrum, insbesondere zu den Wahlerfolgen der AfD. Er macht deutlich, dass die NSDAP sich nicht auf eine soziale Schicht, eine Klasse oder ein religiöses Milieu stützte, sondern ein Sammelbecken für Mitglieder verschiedenster Herkunft war und so zu einer „Volkspartei mit Mittelstandsbauch“ avancierte. Ausschlaggebend für die Wahl dieser Partei war eher nicht das eigens empfundene Elend und die erlittene Not, sondern Niedergangs- und Verlustängste. Durch die Beweisführung, dass insbesondere sozialistisch orientierte Wählergruppen (die Wählerschaft von SPD und KPD) resistent gegen das unterbreitete politische Angebot der NSDAP waren, widerlegt die häufig zitierte Hufeisentheorie, also die Nähe der Extreme zueinander. Wenngleich er festhält, dass die AfD trotz Nähe in Wählerstruktur und Programmatik keine Reinkarnation der NSDAP sei, sondern eher eine „Vor-Hugenberg-DNVP“.

Die ganz großen Fragen versucht der Politikwissenschaftler Herfried Münkler im Blick zu behalten. In seinem fundierten Aufsatz verfolgt er dezidiert einen strategisch-konzeptionellen Ansatz, mit welchem er die Ordnungs- und Sicherheitspolitik des 20. und 21. Jahrhunderts zu umreißen versucht. Er zeigt anhand mehrerer historischer Beispiele (Mitteleuropa – der Westfälische Friede; Europa und Kolonialreiche – Pariser Vorortverträge; Osteuropa – Ende des Kalten Krieges), wie Ordnungsräume und –strukturen zusammenbrachen, neu organisiert und konstituiert werden und welche Mächte sich in welchem Maße für diesen Raum verantwortlich fühlen. Es ist eine bellizistisch geprägte Retrospektive, die immer wieder auf das Scheitern von Ordnungskonstrukten und auf das Fehlen von Ordnungshütern zurückführt, wie bspw. in der Zwischenkriegszeit. Als Gegenbeispiel dient ihm die relative Stabilität im Kalten Krieg, in welchem das Gleichgewicht des Schreckens der beiden ordnungsspolitischen Supermächte (UdSSR und USA) eben diese Stabilität garantiert. Jede von ihnen in ihrer jeweiligen Einflusszone. Von immenser Bedeutung ist für ihn die deutsch-französische Verständigung und Zusammenarbeit, von der das Europa des dritten Jahrtausends bisher geprägt ist.

Um den Deutschen auch noch eine andere Perspektive zu vermitteln, unternimmt Hélène Miard-Delacroix den Versuch, die französische Sicht auf Deutschland und die immer wieder aktuell werdende Weimar-Debatte darzulegen. Insgesamt zeichnet sie ein sehr positives Bild der Bundesrepublik und versteht nicht, dass die Schatten der Vergangenheit immer noch auf die politische Gegenwart fallen, weswegen sie als Überschrift und Leitgedanken für ihren Text die Worte „Rätselhaftes Deutschland“ wählt. Zwar zeigt sie auf, dass in Frankreich durchaus eine subkutane Angst vor einer Kontinuität einer politischen Radikalisierung bei den deutschen Nachbarn besteht, allerdings attestiert sie ihren Landsleuten auch, dass diese Angst seit Ende des Zweiten Weltkriegs kontinuierlich im Abnehmen begriffen ist. Dies ist im Wirken und in der Haltung der deutschen Politik der letzten 75 Jahre begründet. Nicht zuletzt bescheinigte ja Christian Hacke der Bundesrepublik schon, eine „Weltmacht wider Willen“ zu sein. Miard-Delacroixs wohlwollender Blick lässt die Bundesrepublik sehr positiv erscheinen, insbesondere als Hort der Stabilität, Bollwerk gegen politische Extreme aber mit Spielraum in der Außenpolitik (sowohl diplomatisch als auch militärisch).

Andreas Wirsching rundet das Buch ab, indem er ein kurzes Resümee zieht. Durch die Einordnung der Beiträge der anderen Autoren klassifiziert er diese nach Bereichen und gibt dem Gesamtwerk eine finale Struktur. Er weist noch einmal explizit auf die unterschiedliche Verfasstheit der Berliner und der Weimarer Republik hin. Dabei fokussiert er auf die drei Arten politischer Willensbildung in demokratischen Systemen, wobei er insbesondere die differierenden Konstellationen von repräsentativen, präsidialen und plebiszitären Elementen in der Reichsverfassung von Weimar und dem Berliner Grundgesetz betrachtet. Darüber hinaus verweist er auf Gefahren für die Demokratie von rechts wie von links und zeigt historische Beispiele auf. Indem ein Pragmatismus der Radikalen einen Extremismus der Mitte evoziert, oder wenn eine falsche und zu weit gefasste Sozialfaschismusthese die Arbeiterbewegung spaltet und sie ihrer Schlagkraft zu einem Zeitpunkt beraubt, zu dem sie eben diese am meisten gebraucht hätte. Überdies seien die hehren Ziele, die sich die Weimarer Politiker zunächst gesetzt hatten, ein weiterer Sargnagel gewesen, da die vielen Versprechungen nur zu immer weiteren und immer größeren Enttäuschungen geführt hätten. Außerdem stellt er klare Unterschiede in der Qualität der Vergleiche zwischen Innen- und Außenpolitik fest. Gibt es innenpolitisch doch einige Phänomene zwischen Weimar und Berlin, die sich ähneln oder wenigstens Parallelen aufweisen, so stellt sich die außenpolitische Situation der BRD gänzlich anders dar als die der ersten deutschen Demokratie. Alle Probleme, die Weimar so sehr belasteten, scheinen gelöst. Man könnte es auf die von Helmut Kohl geprägte Formel bringen, dass Deutschland nun von Freunden umgeben sei. Schlussendlich sieht Wirsching Weimar als Menetekel, als warnendes Beispiel, wie eine freiheitliche Demokratie sich selbst zugrunde richten kann, wodurch Wirsching selbst zu einem Apostel der Wachsamkeit avanciert.

„Weimarer Verhältnisse? Historische Lektionen für unsere Demokratie“ ist ein hervorragendes Überblickshandbuch, dass jedem den Einstieg in die „Immer-ist-Weimar-Debatte“ ermöglicht. Durch die verschiedenen Autoren und deren unterschiedlichen Ansätze und Themen gibt das Buch mit nur knapp mehr all 100 Seiten eine breite Palette von Problemen, Lösungen, Theorien, Beschreibungen und historischen Fakten wieder. Mittels des Vergleichs zwischen damals (Weimar) und heute (Berlin) wird ein Bezug zur Aktualität hergestellt, der das Verständnis der Problematik erleichtert und oft bei rein historischen Werken etwas zu kurz kommt. Durch den sehr günstigen Preis und die einfache Bezugsfähigkeit über die Bundeszentrale für politische Bildung ist es absolut empfehlenswert, wenngleich die Kürze der Texte und die Diversität der durchaus renommierten Autoren einen tiefen Einstieg in die Thematik lediglich vorzubereiten vermag. Mehr muss ein Überblickshandbuch aber auch gar nicht leisten.