Das schwarze Loch – Eine kurze Geschichte des Versagens der Nordost-CDU

Philipp Amthor war im Frühsommer 2020 die dominante Personalie in der überregionalen Politikberichterstattung. Der junge Hoffnungsträger der Konservativen hat in den letzten Jahren einen beachtlichen Aufstieg in nahezu bahnbrechender Geschwindigkeit hingelegt. Auch wenn die klassische Ochsentour durch die Partei nicht mehr so nötig ist wie früher, die Ställe haben sich bekanntlich in allen politischen Lagern geleert, kann es dauern, bis man in die erste Reihe vorstößt. Natürlich haben die Schnelllebigkeit der Zeit, der Präsentismus, die wie geschmiert laufende Medienmaschinerie, Facebook, Instagram und Twitter die Reaktions- und Interaktionszeiten zwischen allem und jedem verkürzt, aber mit nur 27 Jahren zu den bekannteren Mitgliedern des Deutschen Bundestages zu zählen, ist durchaus bemerkenswert.

Amthor ist prominent, wird in viele Talkshows eingeladen, kann verständlich reden und gibt sich volkstümlich. Er sollte sogar die jugendliche Antwort der Union auf den blauhaarigen YouTuber Rezo sein, als dieser mit seinem Video „Die Zerstörung der CDU“ zum Großangriff auf die christlich-konservative Regierungspolitik der letzten Jahrzehnte blies. Das Reaktionsvideo blieb in der Schublade, also im Verborgenen. Dort befanden sich auch seine Geschäftsgebaren, die jedoch nach und nach ans Licht kommen. Die klandestine Lobby-Arbeit, die Amthor allem Anschein nach fleißig verrichtet und sich dafür offenkundig auch entlohnen lassen hat, ist durch Investigativjournalisten zuletzt aus dem Schatten ins Licht gezerrt worden. Er ist allerdings nur der letzte schwarze Dominostein, der in Mecklenburg-Vorpommern gefallen ist. Die MV-CDU hat damit so ihre Erfahrung.

Historische Entwicklung

Dabei war ihre Ausgangsposition in den Wendejahren geradezu brillant. Die Politik des Kabinetts Kohl II im Zuge des Einigungsprozesses offerierte der CDU sehr gute Möglichkeiten. Neben dem Ergreifen einer historischen Chance schlug Helmut Kohl gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe. Er behielt trotz gesundheitlicher Probleme auf dem Bremer Parteitag 1989 die Kontrolle, lenkte das Interesse der Delegierten und der Medien auf die Vorkommnisse in Ungarn und bootete sowohl Heiner Geißler als auch Lothar Späth aus, die im September 1989 einen Putsch gegen Kohl in der CDU zu lancieren suchten. Darüber hinaus verbesserte er die Aussichten der CDU auf einen Wahlsieg bei gesamtdeutschen Wahlen deutlich, indem er sowohl den Einigungsprozess als auch die Währungsfrage priorisierte. Die blühenden Landschaften waren sowieso lediglich schmückendes Wortbeiwerk. Durch die schnelle Herbeiführung des Beitritts der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland bescherte Kohl der Allianz für Deutschland (in der die Ost-CDU Mitglied war) bei den letzten Volkskammerwahlen im März 1990 einen imponierenden Wahlerfolg. Nach dem Vollzug der Wiedervereinigung avancierten die neuen Bundesländer bei den Bundestagswahlen 1990 und 1994 (bis auf Teile Berlin/Brandenburgs) zu Kraftquellen der CDU. Dazu zählte eben auch Mecklenburg-Vorpommern.

Standen Bundestagswahlen an, war die CDU, bis auf 1998, immer die stärkste Kraft im Land. Fällt der Blick auf die Landtagswahlergebnisse, sieht die Sache schon anders aus, da die SPD ihr hier eben seit 1998 klar den Rang abgelaufen hat. Zwar stellte die CDU mit Alfred Gomolka und Berndt Seite die ersten beiden Ministerpräsidenten nach der Wiedervereinigung, seitdem wird das Amt des Ministerpräsidenten jedoch von Sozialdemokraten bekleidet. Immerhin ist die Verankerung im kommunalen Raum noch stark gegeben, denn die CDU konnte bei allen Kommunalwahlen seit der friedlichen Revolution landesweit klar dominieren. Doch auch hier setzt der Strukturwandel ein. In den 1990er- und 2000er-Jahren war das Bundesland klar aufgeteilt. Den mecklenburgischen Landesteil gewann zumeist die SPD, den vorpommerschen die CDU. Der langjährige Leiter des Lehrstuhls für Vergleichende Regierungslehre an der Universität Rostock und führende Politologe in Sachen Wahl- und Parteienforschung mit Schwerpunkt Mecklenburg-Vorpommern, Nikolaus Werz, prägte den formidablen Begriff vom „Land mit rotem Kopf und schwarzen Füßen“. Eine Anlehnung an den Greifen, eines der mythologischen Wappentiere des Bindestrichbundeslandes. Zwar erzielte die PDS und später die Linkspartei explizit in den ehemaligen Bezirkshauptstädten Rostock, Schwerin und Neubrandenburg starke Ergebnisse, aber die waren historisch bedingt und sozusagen einkalkuliert.

Mit dem Erstarken national-konservativer Kräfte in der Bundesrepublik der 2010er-Jahre und deren parteipolitischen Mannifestation in Form der AfD ist dieses Bild jedoch mittlerweile veraltet. Die Schwäche der Sozialdemokratie hat sich auch im Nordosten gezeigt, Wahlkreise kann die SPD bei Bundestagswahlen hier kaum noch gewinnen. Die CDU hat das Zepter in Mecklenburg übernommen, verliert allerdings in Vorpommern, vor allem im Südosten des Landes, enorm an Boden gegenüber der AfD, sodass erste Wahlkreise nunmehr blau auf den politischen Landkarten eingefärbt sind. Die sicheren Rückzugsräume sind womöglich keine mehr. Bei der letzten Europawahl ging sogar die größte Stadt des Landes an die Grünen verloren. An eine Partei, die historisch in Mecklenburg-Vorpommern bisher marginalisiert zu sein schien. Zudem sind neben den beiden Großstädten Rostock und Schwerin, die Problematik der CDU in Großstädten ist bereits an anderer Stelle hinlänglich untersucht und beschrieben worden, in den weiteren Mittelzentren (Wismar, Stralsund, Neubrandenburg und Greifswald) drei Hochschulen und eine Universität angesiedelt. In jungen, studentischen Milieus tut sich die CDU als konservative Partei naturgemäß schwer.

Gemengelage

Ein weiteres Problem ist die fehlende Machtoption. In einer Umfrage von Infratest dimap von Anfang Juni, ganz kurz vor der Amthor-Krise durchgeführt, gelang es der Landes-CDU zum ersten Mal seit Ewigkeiten klar vor den politischen Mitbewerbern zu landen. Allein, sollte die SPD nicht bereit sein, als Juniorpartner in eine große Koalition einzuwilligen, bliebe nur noch die AfD als möglicher Koalitionspartner, da die Liberalen im Nordosten sehr oft an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern. Doch die SPD ist eben dazu nicht gezwungen, da sie eine veritable Rot-Rot-Grüne-Machtoption ihr Eigen nennen kann. Wie in Thüringen demonstriert, ist dieses Konstrukt absolut arbeitsfähig und böte in Mecklenburg-Vorpommern für die SPD gar noch den Vorteil, hier der Seniorpartner zu sein und sich nicht wie in Thüringen hinter der Linkspartei anstellen zu müssen. Somit scheint momentan die Fortsetzung der Großen Koalition unter veränderten Vorzeichen für die SPD unattraktiv zu sein.

Besteht keine oder nur eine unwahrscheinliche Machtoption, bedeutet das im Umkehrschluss natürlich ebenfalls, dass der CDU-Landesverband-MV nicht gerade ein Magnet für Führungskräfte ist. Das erklärt eben auch, wie ein derart junger Nachwuchspolitiker von seinen Parteikollegen fast schon auf ein Schild gehoben und auf welchem ihm dann demütigst der Landesvorsitz der Partei angetragen worden wäre, wenn Amthor nicht zuvor über seine eigenen Lobby-Aktivitäten gestolpert wäre.

Der fehlende Nachwuchs macht sich zwar nicht nur in der CDU bemerkbar, aber auch hier ist er eklatant. Laut Zahlen des Wahl- und Parteienforschers Oskar Niedermayer hat der Landesverband knapp über 5.000 Mitglieder, womit die CDU jedoch in Mecklenburg-Vorpommern klar den ersten Platz belegt. Mit weitem Abstand vor der Partei Die Linke (etwa 3.500 Mitglieder), welche seit Jahrzehnten kontinuierlich unter altersbedingtem Mitgliederschwund zu leiden hat. Die Rekrutierungsfähigkeit ist fernab von den absoluten Zahlen ebenfalls schlecht. Die MV-CDU belegt in der Unions-internen Rangliste der Landesverbände mit 0,38% lediglich Platz 13, wobei mit Sachsen-Anhalt, Sachsen und Brandenburg gleich drei andere ostdeutsche Landesverbände hinter sich gelassen wurden.

Hinzu gesellt sich fragwürdiges Handeln von regionalen Entscheidungsträgern, das teilweise in überregionalen Medien rezipiert wurde und kein gutes Licht auf die CDU warf. So kooperierten sie bspw. etwa mit Abgeordneten einer kommunalen Gruppierung, der Grünen, der FDP und eben auch der AfD, um gemeinsam mit ihren Stimmen den Posten eines Bürgerschaftspräsidenten der SPD zu entreißen. Ein Hauch von Weimar wehte 2019 durch ein mecklenburgisches Mittelzentrum. Eine Interessengemeinschaft eines, wenn man so will, konservativ-liberalen Zentrums mit rechts-nationalen Kräften, die nur den kurzfristigen politischen Vorteil im Auge gehabt haben kann, ohne die langfristigen Implikationen (politischer Dammbruch, Hoffähigmachung der AfD, medialer Shit-Storm) bedacht zu haben.

Führungskräftemangel

Somit bilden fehlende Machtoptionen, schlechte Ausgangsvoraussetzungen, starke Konkurrenz, fehlender Nachwuchs und geringe Aufstiegschancen eine Melange, die erklären könnte, warum die Landes-CDU derartige Probleme mit ihren Führungskräften in Mecklenburg-Vorpommern zu haben scheint. Philipp Amthor ist nur der Letzte in einer illusteren Reihe an CDU-Politikern, die in kleinere und größere Affären verstrickt waren. Der erste Ministerpräsident Alfred Gomolka wurde in Zusammenhang mit dem betrügerischen Verkaufsgeschäft der ostdeutschen Werften an die Bremer Vulkan AG unter Führung des damaligen Vorsitzenden der CDU-Landtagsfraktion, Eckhardt Rehberg, durch den Entzug des Vertrauens aus dem Amt geputscht, weil er sich gegen den totalen Ausverkauf der maritimen ostdeutschen Produktionsmittel gewehrt hatte. Dagegen war die Affäre um das Ferienhaus von Lorenz Caffier auf Usedom eher eine Pettitesse. Der frühere Bundesminister Günther Krause, ebenfalls aus den Reihen der MV-CDU, kam vom Regen in die Traufe und war praktisch immer in Problemen (Raststätten-Affäre“, „Autobahn-Affäre“, „Putzfrauen-Affäre“ „USA-Reise-Affäre“ und „Umzugs-Affäre“). Den Höhepunkt bildet aber bisher sicherlich Karin Strenz. Über Kreis- und Landtag gelang ihr der Einzug in den Bundestag. Durch mehrmaliges Verteidigen des Direktmandates ihres Wahlkreises ist sie nach wie vor Mitglied dieses Gremiums. Über mehrere Jahre war sie zudem Mitglied der Bundestagsdelegation beim Europarat. Durch auffälliges Stimmverhalten (bspw. gegen die Freilassung politischer Gefangener in Aserbaidschan) zog sie die Aufmerksamkeit der Medien auf sich. Weiterhin versäumte sie es, Zahlungen einer Firma an sie zu melden, welche proaserbaidschanische Lobbyarbeit honoriert. Nachdem sie zunächst nur eine Rüge für ihr Verhalten erhielt, hob der Bundestag 2020 ihre Immunität auf. Büros und Wohnungen wurden daraufhin durchsucht. Die Staatsanwaltschaft wirft ihr unter anderem Bestechlichkeit, Bestechung und Geldwäsche vor.

Die Schutzpatronin

Der einzige Grund, warum dieses Debakel eines Landesverbandes bisher noch gar nicht so präsent geworden ist, liegt vermutlich an der Bundeskanzlerin. Sie wurde zwar in Hamburg geboren und stammt aus der Uckermark, ihr Wahlkreis liegt jedoch in der Region Vorpommern-Rügen. Er ist über die Jahre mehrfach umbenannt und restrukturiert worden, was aber nichts an der Tatsache ändert, dass ihn seit 1990 immer der gleiche Direktkandidat (Angela Merkel) zu seinen Gunsten entschied. Nachdem sie als Kohls-Mädchen Zugang zu den höchsten Zirkeln der Bundes-CDU erhielt, brachten sowohl insbesondere ihre unverdächtige (ostdeutsche) Herkunft als ihre absolute Korrektheit (bis tief in die vierte Amtsperiode als Bundeskanzlerin nicht widerlegt) Angela Merkel den Posten als Generalsekretärin (1998) und als Bundesvorsitzende (2000) ein. Weder leidige Parteispenden-Affairen, noch sinistre Machenschaften des Andenpaktes, oder gar dilettantische Plagiats-Skandale (über die so mancher Politiker parteiübergreifend stolperte) fochten sie an. Mit derlei Dingen wird Angela Merkel nicht einmal in Verbindung gebracht. Alles gleitet an ihr hinab, als wäre sie mit einer Teflonschicht überzogen.

So ist die Kanzlerin über die Jahre zu einer Säulenheiligen in der gesamten CDU, vor allem aber in der CDU-MV, avanciert, die mit ihrem Schein alles überdeckt. Jede Wahlniederlage, jedes Nachwuchsproblem, jede strukturelle Schwäche, jede fragwürdige Personalentscheidung und jeder Skandal wird durch einen Verweis auf sie zumindest relativiert. Das hat nunmehr über Jahrzehnte funktioniert, doch diese Verfahrensweise könnte in naher Zukunft an einen Punkt gelangen, an welchem sie nicht mehr funktioniert. Die Frage, die momentan niemand verlässlich und seriös zu beantworten vermag, ist die, was nach dem Ende ihrer Kanzlerschaft geschehen wird. Kann die CDU ihre Stärke über die und in den Ländern regenerieren. Falls ja, gelänge das in Mecklenburg-Vorpommern ebenso? Die Schlüsselfigur der letzten drei Jahrzehnte ist sicherlich Eckhardt Rehberg, nur ist er nicht mehr der Jüngste. Philipp Amthor, dem viele schon ein Abonnement auf dessen Nachfolge attestiert hatten, wird sich für geraume Zeit zurückhalten und einen neuen Anlauf nehmen müssen. Michael Sack, der nun anstelle Amthors für den Posten des Landesvorsitzenden kandidiert, ist landespolitisch ein unbeschriebenes Blatt und der langjährige Generalsekretär und relativ kurzzeitige Landesvorsitzende Vincent Kokert, dessen überraschende Demission diesen Posten erst unverhofft freiwerden ließ, zog es vor, als Betriebsleiter bei den Stadtwerken Neustrelitz tätig zu werden. Die Aussichten sind daher eher düster.